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Ein gerolltes Stück Industriegeschichte Bünde, Deutschlands Zigarren-Hauptstadt, liegt in Westfalen Zigarren haben Bünde einst reich gemacht. Davon zeugen prächtige Gründerzeitvillen, ein imposanter Tabakspeicher und einige Fabriken, in denen noch immer Rauchwerk produziert wird. Von Knut Henkel * Otto Dustmann legt den Schalter um. Ruckelnd kommt die alte Maschine in Fahrt, dann beginnt sie gleichmässig zu laufen. Zufrieden lächelnd schiebt der alte Mann mit dem weissen Haarschopf einige grosse Tabakblätter in den von einer Metallabdeckung umrahmten Schlund der Maschine. Mit einer Armbewegung deutet der 84-Jährige auf die beiden Haufen auf dem blank polierten Steinboden. Die Rippen der Tabakblätter landen auf dem einen, auf dem anderen stapelt sich, fein säuberlich getrennt, der wertvolle Tabak für die Einlage der Zigarren. Aus Holz und Metall besteht die liebevoll gepflegte "Tabak-Entripp- und -Reiss-Maschine" von Universelle aus Dresden. Selbst der beim Zerkleinern der Blätter anfallende Staub wird abgesaugt. Ganz ordentlich für eine Maschine aus den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts sei das, sagt der rüstige Rentner stolz. Fast wie ein Museum Die alten Maschinen sind sein Hobby, und die Zigarrenfabrik seiner Eltern hat er detailgenau erhalten - selbst den Schrank mit den Gasmasken aus dem Weltkrieg hat Otto Dustmann stehen lassen. Die älteste Maschine im Keller der Dustmann-Fabrik ist von 1914. Doch in sein privates Museum lässt der zackige Rentner nur selten Besucher. Michael Strauss ist eine Ausnahme, denn der Leiter des Deutschen Tabak- und Zigarrenmuseums weiss die seltenen Relikte deutscher Industriegeschichte zu schätzen. Bis 1947 wurden in dem alten Fabrikgebäude, das von aussen eher einem Herrenhaus gleicht, Zigarren en gros produziert. Um die 40 Angestellte befeuchteten, entrippten und trockneten den Tabak im Keller, während weiter oben, im ersten und zweiten Stock, die Einlagen in Form gepresst und dann von Hand in das Deckblatt, die sogenannte Umlage, gerollt wurden. Zum Schluss wurde das Kopfende der Zigarre mit dem Ende des Deckblatts kunstvoll mit Hilfe eines Pflanzenklebers verschlossen. Einige hundert Handgriffe waren damals nötig, um eine Zigarre zu produzieren, und davon liess sich in Bünde lange recht gut leben. Der Siegeszug der Zigarre in Bünde begann 1846 mit Tönnies Wellensiek. Der hatte in Bremen das Zigarrenmacherhandwerk erlernt und kehrte mit seiner Familie und einer Kiepe voller Tabak in seine Heimatstadt Bünde zurück. Das war die Geburtsstunde der lokalen Zigarrenfabrikation, denn Wellensiek gründete hier wenige Jahre später mit seinem Kompagnon Friedrich Steinmeister die erste Zigarrenfabrik. Immer mehr Tabak aus Bremen schafften sie zur Verarbeitung nach Bünde. Den beiden Pionieren ist ein Denkmal vor dem Rathaus gewidmet, denn mit der Zigarre kam neue Arbeit nach Bünde. Bis in die vierziger Jahre hinein hatte die Region um die Kleinstadt von der Leinen-Produktion gelebt, dann erfolgte die Mechanisierung, und Tausende von flinken Händen suchten nach neuer Betätigung. Die Zigarrenproduktion war eine willkommene Alternative für die gesamte Region, denn nicht in den Fabriken, sondern in Heimarbeit auf dem Küchentisch wurde das Gros der Zigarren aus Bünde gerollt, erklärt Michael Strauss. In den grossen Zigarrenhäusern, ob bei Arnold André oder August Schuster, wurden die Zigarren und Zigarillos damals nur nach Farbe und Qualität sortiert, bevor sie in den Handel gingen. Schon 1862 wurden in Bünde 80 Millionen Zigarren und Zigarillos hergestellt, und die Produktionszahlen stiegen ständig, da Bünde neben billigen Arbeitskräften auch eine gute Verkehrsanbindung zu bieten hatte. Über die Bahn und über die Weser war die Stadt mit den Häfen in den Niederlanden und Bremen verbunden, wo der Tabak aus Übersee ankam. Schon um die Jahrhundertwende kam jede zweite Zigarre und jeder zweite Zigarillo, der im deutschen Reich geschmaucht wurde, aus Bünde. Und die Kleinstadt wurde durch die Stumpen reich: 12 Millionäre bei 4800 Einwohnern waren ein Rekord im Deutschen Reich, und mehr als 3700 der Bewohner lebten vom Geschäft mit den Zigarren und Zigarillos aus allen Preisklassen. Die mussten nicht nur gerollt, sondern auch mit Banderole verziert, verpackt und vertrieben werden. Der Nachschub, darunter natürlich auch reichlich billige Stumpen, war nicht nur im Deutschen Reich, sondern auch weiter im Osten gefragt, so Philipp Schuster. Dieser hat das 1909 gegründete Familienunternehmen August Schuster gemeinsam mit seinem Bruder vom Vater übernommen. Noch für dessen Grossvater war der Osten ein wichtiges Absatzgebiet, und mit einst 1000 Arbeitern war die Zigarrenfabrik in der Bündener Blumenstrasse ein grosser Betrieb. Kessing und Thiele, Heinrich Hurlbrink und Arnold André hiessen einige der anderen Schwergewichte der Branche. Überleben der Kleinen Von diesen Herstellern ist die Zigarrenfabrik Arnold André, die mit der Wirtschaftswunderzigarre "Handelsgold" und dem Zigarillo "Clubmaster" zwei Klassiker im Programm hat, bis heute eine grosse Nummer der Branche. Die meisten anderen gingen nach dem Zweiten Weltkrieg in Insolvenz oder sattelten um, wie Otto Dustmanns Vater, der eine Möbelfabrik aufmachte und dem Tabak untreu wurde. Der Einzug der Maschinen, der Verlust der Absatzgebiete im Osten und ein harter Wettbewerb mit billiger Ware sind laut Philipp Schuster die zentralen Ursachen für den Konzentrationsprozess der Branche. Während sich die Grossen wie André, Dannemann und das ebenfalls in Bünde ansässige Schweizer Unternehmen Villiger mit der Massenware im Supermarkt Konkurrenz machten, entschieden sich kleinere Unternehmen wie August Schuster und die Firma Wörmann, auf Qualität zu setzen. Sie liessen den Massenmarkt der aromatisierten Zigarillos und der billigen, aus Bandtabak fabrizierten und oft übelriechenden Zigarren links liegen. 100 Prozent Tabak ist Pflicht bei Philipp Schuster, den man in dem altehrwürdigen Fabrikgebäude seiner Familie kaum ohne Zigarre antrifft. Mit sonorer, leicht kratziger Bassstimme vertritt er die Firmenphilosophie - und diese lautet: Unabhängigkeit. Alles wird selbst gemacht - selbst die Zigarrenkisten. Die letzte Zigarrenrollerin Überraschen kann es da kaum mehr, dass bei Schuster auch die letzte Zigarrenrollerin der Region beschäftigt ist. Die Frau, längst im Rentenalter, arbeitet wie ehedem in Heimarbeit und kommt gelegentlich vorbei, um ihr Können an zwei jüngere Angestellte weiterzugeben. Für den graumelierten Philipp Schuster ist das ein normaler Vorgang, denn das traditionelle Handwerk soll dem kleinen mittelständischen Unternehmen erhalten bleiben. Es profitiert noch von einer Fingerfertigkeit, von der einst die ganze Region lebte und von der sowohl der imposante Tabakspeicher am Bahnhof zeugt als auch das Schild unter dem Ortsnamen an den Gleisen. "Zigarrenstadt" ist da zu lesen. * Der Autor ist freier Journalist in Hamburg.
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