Letzte deutsche Kautabakfabrik Gespuckt wird schon lange nicht mehr
Der Seemann und sein Priem das gehört zusammen. Doch heute hat es
Kautabak schwer. Im nördlichsten Zipfel Hessens versucht die letzte deutsche Fabrik zu
überleben. Von Mona Jaeger, Witzenhausen
16. November 2010
In dem großen silbernen Kessel schwimmt eine braune Brühe aus Lakritz, Pflaumenaroma und
Anis. Ein herber Geruch legt sich schwer auf die umstehenden Maschinen. Ist das der Duft
der Freiheit, den schon die Seemänner rochen und schmeckten, wenn sie sich ein kurzes
schwarzes Stück Kautabak in die Backe schoben und der Hals langsam kratzig wurde? Wer den
Stoff der Ungebundenheit sucht, muss nach Witzenhausen, in die Kirschen- und
Universitätsstadt, wie es auf dem Ortsschild heißt, 30 Kilometer östlich von Kassel. In
einer Kurve am Ortseingang, gegenüber einer kleinen Brücke über der Gelster, steht ein
restauriertes Fachwerkhaus: die letzte deutsche Kautabakfabrik.
Drinnen legt Melanie Schewe die kurzen getränkten Tabakblätter in größere Deckblätter
und verspinnt sie mit einem Handeisen zu einer dünnen Schnur. Die Haspel dreht sich
schnell, Schewe schafft in einer Minute etwa einen halben Meter. Im Hintergrund krächzt
das Radio Ring ring von Abba. Wir müssen schnell arbeiten. Sonst
rentiert sich das gar nicht, sagt sie, ohne von den Tabakblättern aufzusehen.
Heidrun Kruse steht ihr gegenüber und nickt. Ihr gehört die Kautabakfabrik Grimm &
Triepel Kruse. Schewe ist eine von drei Mitarbeitern, die hier stundenweise arbeiten. Es
sei schwer, im Raum Kassel Arbeit zu finden, fügt sie an. Es sei schwer, gute Mitarbeiter
zu finden, äußert die Geschäftsführerin der Fabrik.
An den Rezepten wurde kaum etwas verändert
Der Begriff Fabrik ist etwas übertrieben, Manufaktur würde es wohl besser treffen. Das
merkt man spätestens, wenn man mit Kruse in den Keller der umgebauten Mühle geht. An der
rechten Wand liegen auf Europaletten ein paar Säcke mit Tabakblättern. In einem Sack
steckt ein Hygrometer, das die Luftfeuchtigkeit misst. An der Wand gegenüber stehen in
einem Regal diverse Flaschen und Fläschchen, in denen Aromen und Zusatzstoffe für die
Soße für den Kautabak aufbewahrt werden. Bis zu vier Monate müssen die Blätter in der
Soße schwimmen, ehe sie versponnen werden. Das Warenlager ist sehr überschaubar.
Kruse berichtet, dass sie nur zwei Tabaksorten verarbeite: einen Kentuckytabak aus Amerika
und einen aus Indonesien. Die Sorten waren schon immer gut und sind es noch immer.
Da verändern wir nichts dran. Auch das Rezept für die Soße, in die die
Tabakblätter eingelegt werden, sei seit Jahrzehnten unverändert. Früher habe es sogar
gut gehütet im Tresor gelegen, damit die Konkurrenz nichts davon erfahre. Heute ist das
nicht mehr nötig.
Das Gefühl der Ungebundenheit und Männlichkeit
Im Treppenhaus hängen Andenken an tabakfreundlichere Zeiten. Eine kolorierte Zeichnung
zeigt das große Fabrikgebäude in Nordhausen am Harz, in dem der Gründer Theodor Grimm
1849 mit der Produktion von Kautabak oder Priem, wie er auch heißt, begann. Einige Jahre
später kam als Kompagnon Adolf Triepel hinzu, bis das florierende Unternehmen an Otto
Kruse überging, was den langen Namen der Firma erklärt. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts
wurde gern zum Kautabak gegriffen, nicht nur von Seemännern und Bergarbeitern, die wegen
der Brandgefahr keine Zigarren und Zigaretten rauchen durften.
Es war das Gefühl der Ungebundenheit und der Männlichkeit, das den Verkauf des Kautabaks
ordentlich anregte. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg arbeiteten rund 1800 Mitarbeiter in der
Fabrik, und Grimm & Triepel Kruse wurde zur größten Kautabakfabrik Europas. Nach der
Enteignung durch das kommunistische Regime zog die Firma nach Unterrieden, doch schon bald
wollte kaum mehr jemand den Tabak kauen. Die Zigarette hatte sich endgültig durchgesetzt,
da sie einen entscheidenden Nebeneffekt hatte: Sie brachte Geselligkeit mit sich. Dies war
dem den braunen Saft ausspuckenden Freibeuter eher fremd. Der Marlboro-Mann hatte gegen
den Seemann gewonnen. So musste sich die Firma ein wesentlich kleineres Domizil suchen.
Sie landete vor ein paar Jahren in Witzenhausen. Es ist eine Stadt der Erfindungen: Von
hier aus startete die Biotonne ihren Siegeszug durch die ganze Republik, und eine kleine
Brauerei wirbt am Straßenrand damit, die erste Ökobrauerei Deutschlands zu sein. Diese
Stadt wird die Endstation für den deutschen Kautabak sein.
Unternehmen wird vermutlich nicht weiter geführt
Neben dem Bild mit der Fabrik hängt eine Fotografie von 1899. Zu sehen ist ein Spinnsaal
mit 20 Tischen, an denen die Mitarbeiterinnen im Akkord arbeiten. Heute gibt es in dem
gesamten Unternehmen nur noch einen Spinntisch. Während der Arbeit schauen Schewe und
ihre Kolleginnen immer auf ein Plakat, das eine Tabakarbeiterversammlung ankündigt. Heute
geht es nicht mehr gegen den Chef, sondern mit ihm ums Überleben. Schewe macht auch die
Buchhaltung für Kruse. Die Zahlen, die sie da sieht, bereiteten ihr manchmal Angst, sagt
sie.
Es ist der Niedergang einer Firma, vielleicht sogar einer Kultur, den Geschäftsführerin
Kruse entspannt erzählt. Sie glaubt nicht, dass eines ihrer Kinder einmal in das
Unternehmen einsteigen wird. Vor 30 Jahren hatte sie sich entschlossen, die Fabrik ihres
Ehemannes zu leiten. Der schwere Geruch der Tabaksoße habe ihr in den ersten Wochen
Kopfschmerzen bereitet, erzählt sie. Heute greift sie selbst zu einem Stück Kautabak und
schiebt es sich in die Backe, um zu demonstrieren, dass man inzwischen die Soße auch
herunterschlucken könne.
Alle Maschinen sind Sonderanfertigungen
Aber auch das hat den Kautabak nicht gerettet. Im Produktionsraum liegen in mehreren
Schränken verteilt die kleinen Packungen mit dem fertigen Kautabak. Wir produzieren
nur Kleinstmengen. Zwar schreibe das Unternehmen schwarze Zahlen. Ein Gehalt hat
sich die Geschäftsführerin aber schon lange nicht mehr ausgezahlt. Wenn wir die
Tradition noch ein bisschen bewahren können, ist das doch schön.
Alle Maschinen auf den zwei Etagen sind Sonderanfertigungen. Die jüngste stammt aus den
fünfziger Jahren, die älteste aus dem Jahr 1895. Wenn sich ihr Schwungrad in Bewegung
setzt, macht sie einen fürchterlichen Krach. Ist mal ein Teil kaputt, kommt ein
örtlicher Bauer vorbei und baut ein Teil eines alten Traktors ein. Ginge die Maschine
einmal ganz kaputt, müsste die Fabrik von heute auf morgen schließen.
Schizophrene Europa-Politik
Überhaupt ist das kleine Unternehmen sehr von den Launen der Natur und der Politik
abhängig. Das zweite Produkt, die sogenannten Marschallschnecken, sind dickere
Tabakschnüre, die fast ausschließlich von saarländischen Bergarbeitern gekauft werden.
Von denen sagen viele: Wenn ich rauffahre, dann brauche ich erst einmal eine
Schnecke, sagt Kruse. Die Schnecke kann man vorher noch selbst in eine Soße
einlegen, Rum mit Honig soll besonders aromatisch sein. Als vor zwei Jahren im Saarland
durch den Kohlebergbau ein Erdbeben ausgelöst wurde und 3600 Bergarbeiter freigestellt
wurden, verkauften die Witzenhausener zwei Wochen lang keine einzige Schnecke.
Das andere Problem sind die Eruptionen in der Politik. Als die Firma nach Witzenhausen
zog, wurde für sie extra die alte Mühle umgebaut. Die Europäische Union war der
Meinung, dass die letzte Kautabakfabrik erhalten werden müsse, und steuerte etwa 25.000
Euro bei. Inzwischen ist man aber in Brüssel der Meinung, dass Kautabak eigentlich noch
schädlicher sei als Zigaretten, und man ist drauf und dran, ihn ganz zu verbieten. So
schizophren kann europäische Politik sein.
Die schlechten Zeiten für ihre Fabrik haben Kruse das Glück beschert, fast jeden Kunden
persönlich zu kennen. Es sind fast nur Stammkunden, kaum einer verirrt sich heute noch
zum Kautabak. Manche Kunden schicken eine Karte zu Weihnachten, andere lassen sich den
Tabak noch ins Pflegeheim schicken. Für die ist das noch ein Stück ihres
Lebens, sagt Kruse. Sie halten es mit Kurt Tucholsky: Das Leben muss man
kauen, das Dasein ist ein Priem.