Wie in Hamburg, so auch in Bremen entstanden etliche
Zigarrenfabriken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, um der steigenden Nachfrage
nach dem neuen Tabakgenussmittel Zigarre" nachkommen zu können. Doch die
fortschreitende Industrialisierung in diesen beiden Hansestädten - gefolgt von steigenden
Löhnen - hat diese Standorte für die lohnintensive Zigarrenfabrikation unattraktiv
werden lassen. Hinzu kamen die Auswirkungen des Zollvereins, dem die beiden Hansestädte
nicht beigetreten waren. Die durch den Importzoll erheblich verteuerten Zigarren aus
Hamburg und Bremen fanden nicht mehr die entsprechende Nachfrage in den Mitgliedsländern
des Zollvereins. Wegen dieser Entwicklung suchten die Zigarrenhersteller nach neuen
Standorten. Sie bevorzugten solche in strukturarmen Regionen des Zollvereins.
Neben Ostwestfalen, dem Thüringer Wald und dem Eichsfeld sowie dem Badischen wurde die
für die Zigarrenindustrie geeignete Struktur in dem Großraum
Gießen-Marburg-Wetzlar" gefunden. Die dortigen Dörfer waren geprägt durch
vorwiegend kleinbäuerliche Betriebe und eine nicht vorhandene verkehrsmäßige Anbindung
an die in der Nähe gelegenen Städte. Industrie gab es auf dem Lande so gut wie nicht.
Die erste Zigarrenfabrik in dieser Region wurde um 1836 in Gießen gegründet, weitere
Betriebe entstanden in den umliegenden Dörfern. Ende des 19. Jahrhunderts wurden über
3.000 Personen in der Zigarrenindustrie im hiesigen Raum beschäftigt. Diese Zahl
verdoppelte sich auf knapp 6.000 im Jahr 1914. Der Höchststand wurde im Jahr 1936
erreicht; es sollen damals ca. 10.000 Menschen in der hiesigen Zigarrenindustrie
gearbeitet haben - eine Folge der stetig wachsenden Beliebtheit der Zigarre".
...
Der Strukturwandel für unsere hiesige Zigarrenindustrie hätte vermutlich schon in
den 30er
Jahren des 20. Jahrhunderts eingesetzt. Doch das in 1933 erlassene Maschinenverbots-Gesetz
verhinderte die Einführung des technischen Fortschritts in den Filialbetrieben.
Die damalige hohe Arbeitslosigkeit infolge der Weltwirtschaftskrise war die Ursache für
dieses Verbot. Aber noch mehr haben die Auswirkungen im und nach dem zweiten Weltkrieg den
Zigarrenbetrieben einen strukturellen Stillstand aufgebürdet. Zigarrenfabriken wurden
umfunktioniert zu Rüstungsgüter-Betrieben. Die Belegschaften wurden in andere Industrien
dienstverpflichtet und einige Zigarrenfabriken wurden durch Bombenangriffe zerstört.
Nachdem der wirtschaftliche Alltag auch in die Zigarrenbetriebe wieder einkehren konnte
und diese mit den notwendigen Rohtabaken versorgt wurden, konnten diese
Produktionsstätten wieder voll produzieren - so wie sie es vor Beginn des Krieges taten.
Erst in der zweiten Hälfte der 50er-Jahre setzte ein Prozess ein, der für unsere hiesige
Zigarrenindustrie zu einem dramatischen Strukturwandel führte. Die Manufaktur wurde
abgelöst von der industriellen Fertigung mit vielen einschneidenden Konsequenzen auf den
Standort und die Beschäftigten.
Für diese neue Entwicklung spielte zufälligerweise das Jahr 1958 eine besondere Rolle.
Zeitgleich - von der Ursächlichkeit unabhängig voneinander - wurde das
Maschinenverbots-Gesetz aufgehoben, und die Zigarrenindustrie erlebte in den alten
Bundesländern ihre höchste Absatzzahl nach dem Krieg aufgrund des hohen Nachholbedarfes
in dieser Nachkriegszeit.
Doch von nun an verlief die Absatzkurve stetig nach unten. Die Zigarre" wurde
unmodern, sie verlor stetig an Popularität. Die mengenmäßige Rückläufigkeit betrug
bis zum Jahr 1989 - in dem Jahr, in dem in den USA die ersten Anzeichen für die
Renaissance des Zigarrenkonsums zu erkennen waren - über 70 %.
Zusätzlich zu dieser auch für die hiesigen Zigarrenbetriebe sehr negativen Entwicklung
verlagerte sich die Rauchgewohnheit von der großen Zigarre zum kleinen Zigarillo, eine
Änderung der Verhaltensweise, die negative Auswirkungen auf die
Beschäftigungsintensität haben musste.
Aber nicht nur die Folgen dieser Entwicklung auf dem Markt bereiteten den
Zigarrenbetrieben große Probleme. Auch die unzureichende Möglichkeit, die Verkaufspreise
den Kostenerhöhungen anzupassen - verursacht durch die Absatzrückgänge -, zwangen die
Hersteller, unter hohem Kapitalaufwand Rationalisierungsmaßnahmen zu ergreifen, soweit
sie sich weiterhin in der Zigarrenindustrie behaupten wollten.
So mussten - aufgrund ihrer Einzelanfertigung - teure Produktionsmaschinen angeschafft
werden. Die bisher für die Handarbeit geeigneten Räumlichkeiten waren für die
industrielle Fertigung durch erhebliche bauliche Veränderungen umzugestalten.
Der hohe Kapitalbedarf für die notwendigen Maschinen- und Gebäudeinvestitionen konnte
vielerorts nicht aufgebracht werden. Die Schließung von Betrieben war die Folge. Während
Ende der 50er-Jahre noch ca. 12 eigenständige Unternehmen vorhanden waren, gab es 1970
nur noch drei Hersteller in unserer Region.